Nach mehr als 30 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag, hat die hannoversche Abgeordnete und Bundestagsvizepräsidentin Edelgard Bulmahn am Mittwoch, dem 21. Juni 2017 ihre letzte Rede im Plenum des Bundestags gehalten. In der Debatte ging es um den Bericht des Expertenkreises Antisemitismus.

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Nach mehr als 30 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag, hat die hannoversche Abgeordnete und Bundestagsvizepräsidentin Edelgard Bulmahn am Mittwoch, dem 21. Juni 2017 ihre letzte Rede im Plenum des Bundestags gehalten.

Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte die "vielfältige und vielseitige Arbeit Bulmahns als Parlamentarierin, mehrfache Ausschussvorsitzende, Bundesministerin und Bundestagsvizepräsidentin" in den vergangenen Jahrzehnten und bedankte sich vor den Abgeordneten für die "hervorragende Zusammenarbeit."


In der Debatte ging es um den Bericht des Expertenkreises Antisemitismus. Nach einstündiger Debatte wurde der Bericht des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus" zur federführenden Beratung in den Innenausschuss überwiesen.

"Der Antisemitismus ist eine Kampfansage an uns alle, an unsere Werte, an unsere Demokratie, an unsere Freiheit", sagte Edelgard Bulmahn in ihrer Rede.

"Es ist unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Deutschland ein weltoffenes Land bleibt, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher religiöser und politischer Überzeugung friedlich zusammenleben. Wenn Menschen hier bei uns ihren Glauben nicht mehr leben können, stirbt die Demokratie, stirbt die Freiheit.", so Bulmahn zum Abschluss.

In dem Bericht rückt der Expertenkreis...

...die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund und verweist auf erste Erkenntnisse zu einem möglichen Antisemitismus bei Geflüchteten. Eingehend betrachtet worden sei auch die Entwicklungen im Internet und in den Sozialen Medien, die zum zentralen Verbreitungsinstrument von Hassbotschaften und antisemitischer Hetze geworden sind, heißt es in der Vorlage.

Besonders in den Blick genommen worden sei das Thema Prävention, wobei neben Projekten, die sich an Jugendliche richten, vor allem das bisher weitgehend vernachlässigte Thema Erwachsenenbildung stärker im Fokus stehe.

Ein wichtiges Feld, das schon im ersten Antisemitismusbericht thematisiert worden ist, wurde im vorliegenden Bericht nach Aussage der Autoren erneut aufgegriffen. Eine in Auftrag gegebene Studie sollte mithilfe von qualitativen Interviews mit Imamen zum Thema Antisemitismus in muslimischen Gemeinden Einblick geben in einen Bereich, der seit Jahren im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit steht.
Nicht selten werde der Anschein erweckt, als seien „die Muslime“ die Hauptträger des Antisemitismus in diesem Land, heißt es in dem Bericht. Seit der Zuwanderung von Flüchtlingen seien solche Zuschreibungen noch einmal verstärkt wahrzunehmen.

Das habe dazu geführt, dass der Rechtsextremismus als zentrales Milieu antisemitischer Inhalte in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Antisemitismus in Deutschland in den Hintergrund getreten ist. Insbesondere muslimische Verbände und Moscheegemeinden würden undifferenziert als Hort antisemitischer Agitation gesehen und Imame als „Hassprediger“ charakterisiert.
Untersuchungen zu antisemitischen Einstellungen in muslimisch geprägten religiösen Milieus, die diese Vermutungen untermauern könnten, gebe es bisher jedoch kaum, deshalb bedeute die Studie zu Imamen eine erste Annäherung an das Thema.


Edelgard Bulmahn zum Expertenbericht Antisemitismus (Text)

21. Juni 2017

Rede

Edelgard Bulmahn

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Bundesministerin a.D.

zum

Bericht des "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus"

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Sehr geehrter Herr Präsident!

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine breite Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land lehnt Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus ab. Sie treten ein für Achtung und Toleranz gegenüber Menschen unterschiedlicher Überzeugung, unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher kultureller Traditionen und unterschiedlicher Herkunft.

Und welch ein Glück: Jüdisches Leben blüht wieder in Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Synagogen werden eröffnet. Jüdische Kindergärten und jüdische Schulen werden eröffnet. Für viele ist Deutschland inzwischen wieder ein Magnet geworden. In Berlin leben Tausende von jungen Israelis. Sie kommen zum Studieren, zum Arbeiten, zum Leben in diese Stadt. Und welche Bereicherung ist das für uns alle!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Antisemitismus, antisemitische Einstellungen und Überzeugungen sind in unserem Land, im Land der Täter, im Land der planmäßigen Auslöschung jeglichen jüdischen Lebens, noch immer verbreitet. Das hat der aktuelle Bericht des Expertenkreises Antisemitismus noch einmal ganz eindringlich vor Augen geführt. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Sachverständigen ganz ausdrücklich für diesen wirklich hervorragenden Bericht danken.

(Beifall im ganzen Hause)

Er zeigt, dass auch heute, 72 Jahre nach der Zerschlagung der NS-Diktatur, der Antisemitismus in Deutschland noch nicht überwunden ist. Die meisten von uns spüren das kaum, da sie persönlich nicht betroffen sind. Sie sind nicht Zeuge eines offenkundigen Antisemitismus oder versteckter Andeutungen, vermeintlicher Scherze. Der Antisemitismus liegt oft außerhalb unserer eigenen Erfahrungswelt, und doch ist er allgegenwärtig für Menschen jüdischen Glaubens.

In unserem Land jüdisch zu sein, bedeutet, damit rechnen zu müssen, angepöbelt zu werden, beleidigt, geschmäht zu werden; es bedeutet, schon aufgrund seines Namens damit rechnen zu müssen, unflätige Telefonanrufe und Hass-E-Mails zu erhalten. Und jüdisch zu sein, kann in Deutschland auch bedeuten, in der Schule und unter Jugendlichen ausgegrenzt zu werden, gedemütigt zu werden oder sogar körperlich bedroht zu werden. Das alles erfährt man nicht nur aus den Gesprächen mit Betroffenen, sondern das bestätigen und unterstreichen sämtliche empirische Studien der letzten Jahre.

61 Prozent der Befragten, so eine Studie, geben an, dass der Antisemitismus für sie ein großes, ja sogar ein ziemlich großes Problem sei. Kein Zweifel: Der Antisemitismus in Deutschland ist für die jüdischen Deutschen ein Problem. Er ist aber kein Problem der jüdischen Bevölkerung.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Er ist das Problem unserer Gesellschaft und damit unser aller Problem. Wenn mit antisemitischen Ressentiments politische Stimmung gemacht wird, so wie das in einigen Parteien, zum Beispiel der AfD, geschieht, wenn Menschen beleidigt oder sogar angegriffen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann darf niemand wegschauen, dann darf niemand schweigen, und dann darf niemand so tun, als wenn Antisemitismus in unserem Land überwunden wäre.

(Beifall im ganzen Hause)

Jede einzelne Tat und jeden einzelnen Vorfall sollten wir als das begreifen, was es ist: Sie sind ein Angriff auf unsere Demokratie, auf elementare Menschenrechte, auf unsere freiheitliche Gesellschaft und damit auch auf unsere Art, zu leben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie wir damit umgehen, wie wir unsere Minderheiten, wie wir unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger schützen, das ist ein Gradmesser, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ernst wir es mit der Verteidigung unserer werteorientierten Demokratie meinen und wie wichtig uns diese ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es darf auch keine Entschuldigung geben mit dem Verweis darauf, dass in vielen Fällen Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen, die zum Antisemitismus erzogen worden sind, verantwortlich seien. Unsere Verfassung gebietet es, die Würde aller Menschen in unserem Land zu schützen, gleich von wem oder wie sie bedroht wird.

Vor allen Dingen dürfen wir mit dem Verweis auf diese Tätergruppen nicht über den erstarkenden Rechtspopulismus oder auch den Rechtsextremismus hinwegschauen, der vom gesellschaftlichen Rand in die Mitte der bürgerlichen Schichten hineinzusickern droht. Forderungen nach einer – Zitat – „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ oder Aussagen, dass man die politische Korrektheit auf den Müllhaufen der Geschichte werfen sollte, sollten uns alle wachrütteln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sicherlich ist die Öffentlichkeit jedes Mal entrüstet, wenn Übergriffe bekannt werden, genauso wie wir jedes Mal eine Welle der Empörung über solche unsäglichen Beiträge der Höckes, Gedeons oder Weidels erleben. Aber ich frage mich immer wieder: Reicht das? Ich glaube, nicht; denn allzu oft erleben wir leider auch, dass das öffentliche Interesse nach kurzer Zeit wieder erlahmt. Das ist ein Problem. Diese Zyklen medialer Aufmerksamkeit gilt es zu durchbrechen; denn Antisemitismus ist kein historisches, kein punktuelles, sondern ein anhaltendes und ein aktuelles Problem.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dabei geht es nicht nur um den traditionellen Antisemitismus – ich nenne ihn einmal so –den Antisemitismus, den wir alle kennen, der religiös, rassistisch oder auch mit Verschwörungstheorien arbeitet. Der Antisemitismus ist heute vielschichtiger geworden. Er ist vielfach eng verknüpft mit anderen Diskriminierungsformen, auch mit gruppenspezifischem Rassismus, zum Beispiel dem, der sich gegen Muslime wendet. Er wird zudem stark durch den Konflikt Israels mit der arabischen Welt beeinflusst. Das erschwert auch die politische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Gegenwart. Umso wichtiger ist heute diese Auseinandersetzung.

Sicher, ich bestreite überhaupt nicht, dass Kritik an der Politik einer Regierung, sei es einer israelischen, einer palästinensischen oder einer deutschen, in einer Demokratie immer gerechtfertigt ist. Die ist nicht nur zulässig, die ist sogar notwendig. Aber wenn diese Kritik mit Diffamierung, mit Ausgrenzung und Angriffen auf einen ganzen Staat, eine ganze Bevölkerungsgruppe oder eine Bevölkerung einhergeht, dann ist das nicht mehr zulässig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Antisemitische Einstellungen lassen sich allerdings nicht – das macht es so schwer – per Gesetz verbieten. Sie sind in den Köpfen der Menschen. Wenn wir den Antisemitismus nachhaltig bekämpfen wollen, dann müssen wir wissen, was Menschen für die dumpfen Parolen des Antisemitismus empfänglich macht. Wir müssen verstehen, wie der Boden für diese Einstellungsmuster bereitet wird, emotional, semantisch, symbolisch und mental. Wir müssen die Erscheinungsformen, die Strukturen, die Mechanismen und die Wirkungsweisen antisemitischer Einstellungen besser verstehen lernen, um sie besser bekämpfen zu können.

Deshalb danke ich dem Expertenkreis ganz ausdrücklich, dass er uns den Handlungsauftrag gibt, mehr zu tun, mehr Forschung zu leisten, aber auch mehr in der Umsetzung zu erproben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen ausreichendes Wissen über diese Zusammenhänge, wir brauchen aber auch eine kontinuierliche Berichterstattung, eine kontinuierliche Beobachtung, die systematisch ist. Auch das ist eine wichtige Empfehlung.

Es zeichnet im Übrigen diesen Bericht aus, dass er nicht nur eine wissenschaftliche Analyse darstellt, sondern dass er ganz konkrete Handlungsempfehlungen an die Politik und an die Gesellschaft gibt. Ich kann für die SPD-Fraktion sagen, dass wir diese Handlungsempfehlungen ausdrücklich unterstreichen. Wir wollen, dass diese Handlungsempfehlungen zügig und sehr konkret umgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist nämlich ein Handlungsauftrag nicht nur für diese Legislaturperiode, sondern auch für die nächste. Erlauben Sie mir, dass ich auf einen Punkt noch ganz kurz eingehe, der sich quer durch die Empfehlungen zieht. Der Expertenkreis weist zu Recht auf ein Grundproblem unserer Aktivitäten zur Bekämpfung des Antisemitismus hin, nämlich auf die mangelnde Kontinuität unserer Anstrengungen. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist eine dauerhafte Aufgabe. Dem tragen die bestehenden Strukturen nicht ausreichend Rechnung. Wir müssen deshalb endlich eine dauerhafte Grundlage für eine zuverlässige und sichere Finanzierung dieser so wichtigen Arbeit erreichen, zum Beispiel mithilfe eines Demokratiefördergesetzes oder der Einrichtung einer Organisation, wie wir sie beispielsweise im Zusammenhang mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft geschaffen haben. Wir brauchen einen Weg, der die Zuverlässigkeit sicherstellt. Das ist zwingend geboten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als ich vor mehr als 30 Jahren, im Jahr 1987 – so lange ist das her –, zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, da war es gerade einmal zwei Jahre her, dass der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft würdigte. In dieser Rede wies er zugleich auf die historische Verantwortung der heute und künftig in Deutschland Lebenden hin, damit nie wieder geschieht, was niemals hätte geschehen dürfen.

Den heutigen Feinden der Demokratie, der Freiheit, des Rechtes und des Gesetzes entschlossen und wirksam und vor allem rechtzeitig entgegenzutreten, das sind wir den Millionen Opfern des nationalsozialistischen Regimes und der Gewaltherrschaft schuldig. Das sind wir aber auch uns und den künftigen Generationen schuldig.

(Beifall im ganzen Hause)

Als Demokraten in einer demokratischen Gesellschaft tragen wir heute die Verantwortung dafür, dass unsere Demokratie blüht, dass sie sich fortentwickelt. Wir müssen sie gegen Angriffe verteidigen. Der Antisemitismus ist eine Kampfansage an uns alle, an unsere Werte, an unsere Demokratie und an unsere Freiheit. Es ist unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Deutschland ein weltoffenes Land bleibt, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie unterschiedlicher religiöser und politischer Überzeugungen friedlich zusammenleben können. Deshalb, liebe Experten, ist dieser Bericht auch ein Handlungsauftrag für uns alle.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Liebe Kollegin Bulmahn, das könnte Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag gewesen sein, was auch deswegen besondere Erwähnung verdient, weil Sie am Ende dieser Legislaturperiode stolze 30 Jahre diesem Haus angehören. Das ist eine gute Gelegenheit, Ihnen für die vielfältige und vielseitige Arbeit zu danken, die Sie in ganz unterschiedlichen Funktionen über einen so langen Zeitraum wahrgenommen haben: in der Fraktion, im Parlament, als Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende von Fachausschüssen, als Ministerin in der Bundesregierung und zuletzt im Präsidium des Deutschen Bundestages.

Ich möchte mich im Namen des Hauses, aber auch persönlich herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken und Ihnen alles Gute für die nächsten Jahre wünschen.

(Beifall im ganzen Hause)