In einer Aktuellen Stunde setzte sich der Deutsche Bundestag am Mittwoch, dem 21, Mai mit dem Schicksal der in Nigeria entführten Schulmädchen auseinander. Hier finden Sie dazu die Rede von Bundestagsvizepräsidentin Edelgard Bulmahn im Wortlaut und als Video.


Rede von Edelgard Bulmahn zu den in Nigeria entführten Schulmädchen

Edelgard Bulmahn

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Bundesministerin a.D.

21. Mai 2014

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU, SPD

Freilassung der von Boko Haram entführten Schulmädchen in Nigeria

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder.

So der italienische Dichter und Philosoph Dante Alighieri im 14. Jahrhundert. Das Kostbarste, was Eltern haben, sind ihre Kinder. Wer Menschen verachtet, wer sie zutiefst verletzen will, ihnen den größtmöglichen Schaden zufügen will, der nutzt genau dies aus.

Unschuldige Kinder und Jugendliche zu Geiseln zu machen, zeugt von einer unvorstellbar rohen und bruta­len Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer so handelt, gibt seine eigene Menschlichkeit auf und verabschiedet sich bewusst von grundlegenden Werten, die allen Kulturen und Religionen der Welt gemeinsam sind.

Die Entführung von über 270 Mädchen aus einer Schule in Chibok im Norden Nigerias ist aber auch eine Tat, die ein gezieltes Statement gegen die Bildung und damit auch gegen bessere Lebenschancen von Mädchen und jungen Frauen sein soll. Wer den Islam als Rechtfer­tigung hierfür heranzieht, wie es der Anführer der Ter­rorgruppe Boko Haram tut, verhöhnt den Islam.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND­NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Anschläge wie die Entführung der Schülerinnen in Nigeria sind leider kein Einzelfall: Seit Jahren – meine Vorredner haben darauf hingewiesen – begeht Boko Ha­ram immer wieder Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Erst gestern wurden bei einem Anschlag in Jos min­destens 120 Menschen getötet.

Nigeria – das dürfen wir in dieser Debatte nicht ver­gessen – war ein von Toleranz geprägter Vielvölkerstaat. Das macht die Dramatik und das Problem dieser Ent­wicklung so deutlich. Die Führer der katholischen und der muslimischen Religionsgruppe betonen immer wie­der, es gebe keinen Krieg der Religionen; Opfer seien Christen und Muslime. Die religiösen Führer – das ist ein Stück Hoffnung – setzen sich immer wieder für Aus­gleich und Toleranz ein.

Eine grundlegende Ursache des Konfliktes liegt in der sozioökonomischen Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden. Nährboden für Boko Haram sind wirt­schaftliche und soziale Benachteiligungen der Menschen im Norden des Landes, hohe Jugendarbeitslosigkeit, Per­spektivlosigkeit, Korruption und Verlust des Vertrauens in staatliche Institutionen. Vom beachtlichen Wirt­schaftswachstum der letzten Jahre und von den wertvol­len Ressourcen, die es in diesem Land gibt, profitieren die meisten Menschen im Norden, aber auch im Süden nicht.

Die Regierung steht deshalb vor einer doppelten He­rausforderung: Erstens muss sie den Terror bekämpfen. Aber sie darf dabei nicht stehen bleiben. Sie muss zwei­tens Armut bekämpfen und Menschen wieder eine Per­spektive geben, und zwar unabhängig davon, wo sie leben. Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg, an der wirt­schaftlichen Entwicklung, Respekt vor Menschenrech­ten, Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und na­türlich auch die Zusammenarbeit mit den Religionen sind wichtige Voraussetzungen dafür, damit dem Terro­rismus in diesem Land und einer solchen Gruppe wie Boko Haram der Nährboden entzogen wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus zie­hen? Ja, ich bin sehr froh, dass es die Konferenz in Paris gegeben hat. Sie hat deutlich gemacht, dass eine derart massive menschenverachtende Verletzung von grundle­genden Menschenrechten von der internationalen Staa­tengemeinschaft nicht akzeptiert werden kann und darf. Das ist ein wichtiges Signal, im Übrigen auch deshalb, weil damit nicht nur Nigeria, sondern auch seine Nach­barstaaten sowie Europa und die USA deutlich gemacht haben, dass wir alle die Verantwortung dafür tragen, dass den Menschen wieder eine gerechtere Teilhabe an wirt­schaftlicher Entwicklung ermöglicht wird. Nur so kann der Nährboden für Terrorismus ausgetrocknet werden.

Ich sage ausdrücklich auch: Es darf keine rein militä­rische Antwort geben, sondern eine Antwort muss im echten Sinne des Wortes umfassend sein. Deshalb müs­sen wir über Entwicklungshilfe und über unsere wirt­schaftlichen Hilfen unseren Teil zum Aufbau und zur Stärkung rechtsstaatlicher und demokratischer Institutio­nen und Strukturen in diesem Land beitragen. Wir müs­sen dafür sorgen, dass Korruption bekämpft wird und dass sich gute Regierungsführung wieder stärker eta­bliert. Damit können die Voraussetzungen für eine bes­sere ökonomische Entwicklung in allen Teilen des Lan­des geschaffen werden.

Ich habe bereits erwähnt, dass auch die Bekämpfung von Armut, Hunger und Not notwendig ist. Hier stehen wir ebenfalls in der Verantwortung, über die Entwick­lungshilfe zu reagieren. Wir stehen über die Entwick­lungshilfe hinaus auch in der Verantwortung, durch wirt­schaftliche Zusammenarbeit zwischen unserem Land, aber auch zwischen der EU und dieser Region die nach­haltige Entwicklung zu unterstützen.

Meine sehr geehrten Herren und Damen, die deutsche Politik trägt hier eine Verantwortung. Wir müssen un­seren Beitrag leisten, auf einen positiven Wandel hin­zuwirken. Dazu ist es wichtig, dass wir uns auch auf Regierungsebene an einem institutionalisierten Dialog beteiligen, dass wir diesen Dialog nutzen und dass wir ihn tatsächlich führen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])