In der heutigen Debatte zum Endbericht der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" zog die hannoversche Bundestagsabgeordnete Edelgard Bulmahn die Bilanz aus zweieinhalb Jahren intensiver Arbeit.
Hier geht's zur Rede im Bundestag in Wort und Bild:


Hier der Wortlaut der Rede

Sehr geehrte Frau Präsidentin!


Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!


Gerade an die Zuhörer und Zuhörerinnen richte ich die Bitte, in den Bericht der Enquete-Kommission zu schauen. Die Argumentation, die Darstellung der Herausforderungen, vor denen wir stehen, und unsere Lösungsvorschläge sind in diesem Bericht viel differenzierter und viel konkreter, als diese niveaulose Auseinandersetzung das vielleicht vermuten lässt. Der Bericht ist nicht schwarz-weiß, sondern viel differenzierter. Deshalb lohnt es sich, in diesen Bericht zu schauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Enquete-Kommission hat sich mit wichtigen Krisenerscheinungen, mit den Wirkungen der Krise beschäftigt. Das war notwendig und wichtig, weil die Folgen der Krisen bisher nicht behoben worden sind. Wir sollten Problemlösungsvorschläge erarbeiten, die verhindern, dass in Zukunft wieder solche Krisen entstehen können. Dieses war der Grund für die Einsetzung der Enquete-Kommission. Deshalb haben wir zweieinhalb Jahre miteinander gerungen, um zu überzeugenden Antworten zu kommen.


Lassen Sie mich am Anfang meiner Rede einen ganz herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen richten, vor allen Dingen aber an die Vorsitzende der Kommission, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Sachverständigen; denn ohne ihr Engagement könnten wir heute nicht ein, wie ich finde, trotz aller Lücken akzeptables Ergebnis vorlegen. Deshalb ein herzliches Dankeschön!


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Das war zugegebenermaßen ein hartes Stück Arbeit, insbesondere wenn es darum ging, die Koalition durch gute Sachargumente zu fortschrittlichen Aussagen zu bewegen. In aller Freundschaft sage ich: Ich glaube, es ist uns an vielen Punkten gelungen, über Fraktionsgrenzen hinweg gute Vorschläge zu entwickeln, gerade was die Stabilisierung der Finanzmärkte angeht. Diese Vorschläge sind, wie ich finde, sehr wichtig. Sie werden eine große Rolle spielen und dazu beitragen, dass wir die internationalen Finanzmärkte wieder zu ihrer ursprünglichen Aufgabe zurückbringen können, nämlich, die Finanzierung der Realwirtschaft sicherzustellen.


Wir haben auch alternative Vorschläge unterbreitet. Ich finde, es ist in einer Demokratie nichts Schlechtes, wenn deutlich wird, dass es unterschiedliche Bewertungen, Ziele und auch Gestaltungsvorschläge gibt. Ich finde, es ist auch nichts Schlechtes, wenn deutlich wird, dass politische Entscheidungen immer auch Wertentscheidungen sind.
Die Vorschläge, die wir vorlegen – ich will jetzt über die Oppositionsvorschläge sprechen –, zeigen Wege zu einem tragfähigen Wohlstandsmodell auf, bei dem so-ziale, ökologische und wirtschaftliche Ziele gleichberechtigt in Einklang gebracht werden. Das, lieber Herr Bernschneider, ist die Neujustierung der sozialen Markt-wirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


So ist es bislang nämlich nicht. Diese Ziele stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander. Sie werden nicht miteinander verknüpft. Genau das fordern wir in unserem Bericht.


(Florian Bernschneider [FDP]: Also doch keine Transformation!)


Genau das ist notwendig, wenn wir der Anforderung, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung in der Breite zu verbessern und nicht nur für 10 Prozent der Bevölke-rung, gerecht werden wollen. Letzteres wäre nicht die Politik meiner Partei, der SPD.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen für die Breite der Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensverhältnisse.
Die Umsetzung der Empfehlungen, die wir vorgelegt haben, erfordert viel politischen Mut; dessen muss man sich klar sein. Es bedarf unseres Mutes, aber auch des Mutes der Unternehmen, der Gewerkschaften und der Menschen, die in unserem Land leben. Wenn wir diese Empfehlungen umsetzen, werden wir den sozialen Zu¬sammenhalt in unserer Bevölkerung stärken und eine gute wirtschaftliche Entwicklung sichern. Damit werden wir auch unserer Verantwortung für die künftigen Generationen besser gerecht.


Lassen Sie mich auch eine kritische Anmerkung machen. Mich hat es enttäuscht, dass die Koalition offensichtlich nicht bereit ist, zu akzeptieren – vielleicht hat sie es auch nicht verstanden –, dass es nicht ausreicht, an einigen Stellschrauben ein bisschen zu drehen, um diesen tiefgreifenden Wandel unserer sozialen Marktwirt-schaft wirklich herbeizuführen. Mich hat auch enttäuscht, dass sie bis heute offensichtlich nicht verstanden hat, dass uns gerade die Marktwirtschaft in ihrer jetzigen marktradikalen Form die Finanz-, Wirtschafts- und Umweltkrise beschert hat.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sagen Sie doch etwas zur Liberalisierung der Finanzmärkte!)


Offensichtlich haben Sie bisher nicht verstanden, Herr Nüßlein, dass wir diese Wirtschaftskrise in unserem Land nur deshalb einigermaßen gut überstanden haben, weil wir sie mit einem massiven Einsatz von Steuermitteln überwunden haben. Dass Sie das so schnell vergessen, hätte ich nicht erwartet.


(Beifall bei der SPD – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber die Liberalisierung der Finanzmärkte, das waren doch Sie!)


– Auch da müssen Sie Ihr Gedächtnis wieder etwas mobilisieren. Auch das ist falsch. Die Kohl-Regierung hat damals die Grundlagen für den Euro festgelegt, und das Europäische Parlament hat die Deregulierung durchgeführt. Im Europäischen Parlament haben im Übrigen die konservativen Parteien die Mehrheit.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nein, nein! Schröder und Kompanie! Eichel war beteiligt! Bei den Griechen auch!)


Deshalb wünsche ich mir, dass wir eine sozialdemokratische Mehrheit im Europäischen Parlament haben, um das endlich wieder zurechtzurücken.


(Beifall bei der SPD – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Eichel war beteiligt!)


– Man muss schon bei der Wahrheit bleiben, lieber Herr Nüßlein, und hier keine Märchen erzählen oder Legenden bilden. Das ist notwendig.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sie waren in der Regierung damals! Sagen Sie es doch!)


Sie haben auch nicht verstanden, lieber Herr Kollege,
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Stabilitäts- und Wachstumspakt! Wer hat den aufgegeben?)
dass ein aufwendig organisierter Kongress, der sicherlich interessant ist und zu dem sogar Gäste aus Bhutan eingeladen sind, nicht den politischen Willen, wirklich etwas zu verändern, und auch nicht die notwendigen Mehrheiten, die man dafür braucht, ersetzt. Sie haben bisher auch nicht verstanden, dass es moralisch und wirtschaftlich notwendig, klug und vorausschauend ist, dass Deutschland international eine Vorreiterrolle für diesen Wechsel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise ein¬nehmen muss. Ich glaube, es ist erforderlich, dass wir hier in diesem Parlament genau darüber Einigkeit herstellen, weil wir nur dann unserer eigenen Verantwortung gerecht werden.
Für uns Sozialdemokraten ist eines völlig klar: Bei allen verschiedenen Definitionen von Wachstum stellen wir den Wohlstand und das Wohlergehen von Menschen in den Mittelpunkt.
Lassen Sie mich auf das eingehen, was Herr Heider gesagt hat. Sie sprachen darüber, dass utopische Konzepte vorgelegt werden. Daher frage ich Sie, ob Sie die Nachhaltigkeitsinitiative, die die chemische Industrie und die Chemiegewerkschaft gerade jetzt gestartet haben und mit der sie sich sehr anspruchsvolle Ziele und Leitlinien setzen – was ich sehr gut finde –,


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die können das ohne uns! Ohne SPD!)


als utopisches Konzept bezeichnen. Darin steht vieles von dem, was wir in der Enquete-Kommission beschrieben haben.


(Florian Bernschneider [FDP]: Deswegen brauchen wir keine Gesetze!)


Gerade der VCI hat in der Anhörung ausgeführt, dass sie zur Erreichung der Ziele die passenden staatlichen Rahmenbedingungen brauchen und eine mutige Politik, die diesen Pfadwechsel unterstützt.
Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen keine Regierung, in der der Wirtschaftsminister ein Wachstum um jeden Preis propagiert und der Umweltminister für nachhaltiges Wirtschaften plädiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Judith Skudelny [FDP]: Das stand in Ihrem Parteiprogramm! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Für was sind Sie denn jetzt? Für Wachstum oder Begrenzung?)


So gelingt keine Energiewende, und so gelingt auch nicht der notwendige Wandel, den wir brauchen, um tatsächlich eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen.
Ein versöhnliches Wort zum Schluss, wie es viele zu Recht gemacht haben. Das, was wir hier erarbeitet und vorgelegt haben, erfüllt zwar sicherlich nicht immer alle Erwartungen, im Übrigen auch nicht unsere eigenen; aber es ist ein guter Anfang. Wir haben ein Stück des Weges beschritten, den wir weitergehen sollten. Deshalb liegt es jetzt an uns, ob wir die Handlungsempfehlungen, auch die der Opposition, in der kommenden Zeit umsetzen. Ich finde, wir müssen handeln. Denn die Uhr steht auf fünf vor zwölf.

Vielen Dank.


Zwischenfrage von Edelgard Bulmahn an die Abgeordnete Stefanie Vogelsang (CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich wollte Sie fragen, ob Frau Bulmahn Ihnen eine Zwischenfrage stellen darf.


Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Ja, das darf sie gerne.


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.


Edelgard Bulmahn (SPD):
Frau Vogelsang, stimmen Sie meinen folgenden Ausführungen zu? Wir alle haben in der Enquete – sowohl in den Projektgruppen als auch in der Gesamt-Enquete – die Auffassung vertreten, dass es nicht um die Frage „Wachstum, ja oder nein?“ geht, sondern um die Frage, wie man in einer Welt, in der 7 bis 10 Milliarden Men¬schen ein gutes Leben führen können sollen, die wirtschaftliche Entwicklung, den Arbeitsmarkt und die Umweltentwicklung so miteinander versöhnen kann, dass wir auf der einen Seite die planetarischen Grenzen nicht nur anerkennen, sondern auch einhalten und auf der anderen Seite diesen 7 bis 10 Milliarden Menschen ein wirklich gutes Leben ermöglichen.
Es gab auch überhaupt keinen Dissens darüber, dass es nicht möglich ist, dieses Ziel durch ein Zurück in die Steinzeit zu erreichen, sondern dass wir es nur mit einer hochleistungsfähigen, innovativen Wirtschaft erreichen können.
Daher haben wir miteinander über die Frage diskutiert, wie wir eine solche Veränderung unserer Wirtschaftweise und Lebensweise erreichen können, um diese beiden Ziele – Schutz der Umwelt und Einhaltung der planetarischen Grenzen einerseits und ein gutes Leben für 10 Milliarden Menschen andererseits – vereinba¬ren zu können. Das war doch der Kern unserer Debatten und Diskussionen. Stimmen Sie mir zu? Das wollten wir ja durch die Indikatoren abbilden, über die wir miteinan¬der diskutiert haben.


Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
Frau Kollegin, im Großen und Ganzen stimme ich Ihnen zu. Bei der großen Mehrheit der Mitglieder der Enquete-Kommission, die im Plenum und in der Projekt-gruppe, die ich beurteilen kann – das war die Projektgruppe 2 –, diskutiert haben, war die Diskussion auf diese Ziele ausgerichtet. Was in den anderen Projektgruppen stattgefunden hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Danach haben Sie mich auch nicht gefragt. In den Bereichen, in denen ich das beurteilen kann, ist es der großen Mehrheit, aber eben nicht allen, um diese Inhalte gegangen. Es war auch nicht für alle klar und selbstverständlich, dass wir eine funktionierende und florierende Wirtschaft brauchen, die auf Wachstumskräfte setzt, um die Lebensqualität für möglichst viele Menschen auf dieser Welt zu verbessern.

Hier geht's zum Protokoll der gesamten Debatte im Bundestag