Die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität des Deutschen Bundestages zog mit einer Plenardebatte Halbzeitbilanz über ihre Arbeit in den vergangenen Monaten. Im Rahmen dieser Debatte machte die hannoversche Bundestagsabgeordnete und Sprecherin der SPD-Fraktion in der Enquete Edelgard Bulmahn deutlich, dass die Gleichung "Wenn die Wirtschaft wächst dann geht es allen besser" heute so keine Gültigkeit mehr hat.

Die Rede im Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn die Wirtschaft wächst, dann geht es allen Menschen besser – so lautete die klassische Gleichung, die über viele Jahrzehnte wirtschaftliches und sogar politisches Handeln geprägt hat. Aber diese Gleichung geht genauso wenig auf wie die Gleichung „Kein Wachstum ist der Königsweg“. Beide Gleichungen haben im 21. Jahrhundert keine Gültigkeit mehr.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb sage ich ausdrücklich: Die größte Gefahr für ein Scheitern der Enquete sehe ich darin, sich in der scheinbar schlichten Scheinalternative „Wachstum – ja oder nein?“ zu verirren. Wenn wir uns in dieser Scheinalternative verirren, dann werden wir der Herausforderung und der Aufgabe, die uns gestellt worden ist, nicht gerecht.

Globales Wachstum bedeutet eben keineswegs immer globalen Wohlstand. Die Wirtschaft wächst, und gleichzeitig bedroht der Klimawandel unsere Lebensgrundlage auf eine Art und Weise, die für die Menschheit in Gänze existenzbedrohend ist. Die Wirtschaft wächst, und trotzdem geht es vielen Menschen nicht besser, weil sie sich in unsicheren, schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen befinden. Das sind allein in Deutschland knapp 6 Millionen Menschen. Herr Bernschneider, wenn Sie sagen, dass Anstrengung und Fleiß sich lohnen sollen, dann sage ich dazu ausdrücklich Ja. Damit kann ich aber nicht begründen, und Sie auch nicht, warum eine Erzieherin in unserem Land so viel weniger verdient als zum Beispiel jemand in einer Bank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Bernschneider [FDP]: Das ist doch flach!)

Dies zeigt – das sage ich ausdrücklich –, dass wir ein bisschen genauer hinschauen müssen; denn die Erzieherin leistet unglaublich viel, gerade für unsere Zukunft. Genau über diese Zusammenhänge sagt unser Bruttoinlandsprodukt gar nichts aus. Deshalb brauchen wir bessere Maßstäbe, eine bessere Beschreibung von Wohlstand und Lebensqualität. Was wir messen und wie wir messen, beeinflusst unser Handeln. Es zeigt auch, was uns wichtig ist. Teilhabe an Arbeit ist uns wichtig. Bildungschancen sind uns wichtig. Wohlstandsentwicklung und auch seine Verteilung sind uns wichtig. Eine intakte Umwelt, Gesundheit und auch Wirtschaftswachstum, politische Beteiligung und Demokratie – alle Umfragen zeigen, dass das den Menschen wichtig ist.

(Judith Skudelny [FDP]: Uns doch auch!)

Das Messsystem, über das wir im Augenblick diskutieren, wird Werteentscheidungen und den demokratischen Meinungsaustausch nicht ersetzen, aber wir können darüber mehr Transparenz herstellen. Das ist wichtig in einer Demokratie. Dieses Messsystem wird die Wirklichkeit besser beschreiben können, über Zusammenhänge informieren und auch aufklären. Vielleicht tragen ja die Diskurse darüber auch dazu bei, eine neue Kultur der Rechenschaftslegung in der Politik zu etablieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir unseren Kindern eine ökologisch, ökonomisch und sozial intakte Welt übergeben wollen, dann brauchen wir nicht nur ein neues Messsystem, sondern dann müssen wir auch konkrete Wege beschreiben, wie wir die Probleme lösen wollen, zum Beispiel wie wir den Klimawandel begrenzen und wie wir die Spaltung der Gesellschaft überwinden wollen. Ja, liebe Frau Kollegin Kolbe, da werden manchmal titanische Anforderungen und Erwartungen an uns gestellt; das ist richtig. Wir sollten versuchen, zumindest modellhaft zu zeigen, wie der sozial-ökologische Wandel gelingen kann.

Notwendig ist das ernsthafte Bemühen, überzeugende, realisierbare Modelle und Vorschläge zu erarbeiten, wie diese Transformation, diese Umgestaltung gelingen kann. Es ist notwendig, dass wir Auskunft darüber geben und etwas dazu sagen, wie wir die CO2-Emissionen in unserem Land und weltweit reduzieren wollen, damit der Klimawandel nicht so dramatisch voranschreitet, wie er es gerade tut. Es ist auch notwendig, dass wir darüber diskutieren, ob es richtig ist, ob das Ziel erreicht werden kann, wenn man zum Beispiel die Förderung von regenerativen Energien mit einem solch dramatischen Todesstoß – 30 Prozent sind ein Todesstoß – einfach zerstört.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ein Blödsinn! – Michael Kauch [FDP]: Frau Kraft hat uns dazu aufgefordert! Das ist Wählerverdummung, was Sie da machen! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Peinliche Klientelpolitik ist das, was Sie bieten! Das ist lächerlich!)

– Ja, genau diese Diskussion müssen wir führen. Wenn wir diese Diskussion im Parlament nicht führen, dann werden wir – das sage ich Ihnen ganz klar – unserer Verantwortung nicht gerechnet, weil genau das die Erwartung der Bürgerinnen und Bürger an uns ist. Sie erwarten, dass wir dazu Auskunft geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Bulmahn, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Kauch?

Edelgard Bulmahn (SPD):
Ja, das nehme ich immer gerne auf.

Michael Kauch (FDP):
Liebe Kollegin Bulmahn, ist Ihnen bekannt, dass unter dieser Bundesregierung ein Anteil von 21 Prozent der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion erreicht worden ist – das ist der höchste Wert für erneuerbare Energien, den wir je in diesem Land erreicht haben –, dass wir bei der Photovoltaik einen Ausbaugrad von 7 500 Megawatt pro Jahr in zwei Jahren hintereinander hatten, obwohl Ihr Umweltminister Gabriel – er ist jetzt SPD-Vorsitzender – noch im Jahr 2009 einen Zielkorridor von 1 900 Megawatt angestrebt hatte,

(Ulrich Kelber [SPD]: Quatsch!)

dass die Dinge, die Sie hier erklären, offensichtlich nichts mit der Realität zu tun haben,

(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kauch, das wissen Sie auch besser!)

insbesondere angesichts der Tatsache, dass wir die Hälfte der EEG-Umlage für 15 Prozent des Ökostroms ausgegeben haben, und dass es nicht nachhaltig ist – Sie sprechen hier über nachhaltiges Wachstum – einen solch hohen Anteil der Kosten für die Bürger für nur eine Technologie auszugeben und die anderen zu vernachlässigen?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Wo ist die Frage?)

Edelgard Bulmahn (SPD):
Ich darf vielleicht mit einer Gegenfrage antworten: Ist Ihnen bekannt, lieber Kollege, dass der Anteil der regenerativen Energien vor zwölf Jahren noch bei ungefähr 5 Prozent lag und der weitaus größte Teil aus Wasserkraft stammte, die aber begrenzt ist? Ist Ihnen bekannt, dass es uns gelungen ist, die 21 Prozent, die Sie nennen, durch eine konsequente, mutige Politik zu erreichen, indem wir nämlich den Kurs gewechselt und gesagt haben: Wir wollen Wohlstandsentwicklung, Umweltverträglichkeit und eine Begrenzung des Klimawandels zusammenführen, wir wollen für die Welt Vorbild sein, und wir wollen zeigen, dass es möglich ist, für eine Wohlstandsentwicklung zu sorgen, wirtschaftliches Wachstum zu erzielen und gleichzeitig unsere Umwelt zu schonen? Das ist der Erfolg von zwölf Jahren Politik, an der meine Partei und meine Fraktion einen ganz erheblichen Anteil hatten; sonst wäre das nämlich nicht in die Wege geleitet worden.

(Beifall bei der SPD – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr wahr!)

Ich denke, das wird Ihnen bekannt sein. Ich möchte, dass eine solch erfolgreiche Politik fortgesetzt werden kann.

Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen die Chancen, die eine auf erneuerbare Energien und Ressourceneffizienz gegründete Wirtschaft bietet, mutig nutzen. Wir wollen nicht kleinmütig und ängstlich sein. Wir wollen Antworten auf die Frage geben, welche Gesetze, welche fiskalischen Anreize und welche ordnungsrechtlichen Maßnahmen wir brauchen, welche schädlich sind und welche den notwendigen und wichtigen sozialökologischen Wandel unterstützen. Wir wollen auch Antworten darauf geben, wie wir zum Beispiel eine bessere Work-Life-Balance erreichen können. Wir wollen also nicht nur die ökologischen Probleme, sondern auch die sozialen Probleme lösen.
Wir wollen nämlich nicht noch in 20 oder 30 Jahren darüber diskutieren, wie wir Frauen bessere Berufschancen eröffnen können. Wir möchten das bitte etwas schneller schaffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])

Wir möchten schneller erreichen, dass Zeitwohlstand nicht nur eine Vokabel ist, die in Sonntagsreden benutzt wird, sondern dass er von den Menschen tatsächlich realisiert wird. Wir wollen auch nicht nur in Sonntagsreden darüber sprechen, wie die Kluft zwischen Arm und Reich überwunden wird, sondern wir wollen durch konkrete Vorschläge sicherstellen, dass uns dies gelingt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wichtig sind dabei positive Beispiele, die zeigen, wie wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise verändern können, Beispiele, die Menschen Mut machen und Menschen motivieren, sich zu engagieren. Wenn wir die Ressourceneffizienz um den Faktor fünf verbessern wollen, dann bedeutet das eine Revolution in der technologischen Entwicklung, und zwar in einer Dimension, die wirklich mit der industriellen Revolution vergleichbar ist. Es bedeutet auch Chancen, wenn wir hier vorangehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derartig grundlegende Veränderungen werden neue Wege in der Technologieentwicklung bedeuten – aber nicht allein. Denn diese technologischen Entwicklungen werden nur zumund wirtschaftliche Ziele zusammenzuführen, also eine Art neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Bulmahn, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Edelgard Bulmahn (SPD):
Dadurch kommt das Thema Demokratie auf die Tagesordnung. Insofern ist klar, dass dies nicht nur ein technologisches, sondern auch ein politisches Projekt ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])